Jakob Lorber: ''Das große Evangelium Johannes', Band 2, Kapitel 233


Gefahren von zu viel Wissen und des Übermaßes in allem.

01] Sagt Cyrenius: »Ja, Herr und Meister, nun ist mir die Sache so klar, wie sie einem noch blöden Geiste in seinem irdischen Sein nur immer klar sein kann. Daß ich dabei wohl um so manches und wohl um gar vieles noch fragen könnte, das ist gewiß; aber ich sehe es nun ein, daß das gar zu viele Wissen dem Menschen nicht einmal gut ist, denn er wird dadurch wohl ein weiser Mensch, aber dafür kein absonderlicher Tatmensch werden.

02] Mir kommt ein Mensch, der zuviel Weisheit besitzt, vor, wie ein in allem wohlversorgter, reichster Mann der Erde. Wozu sollte der noch die Erde bearbeiten, wozu die Ochsen spannen vor den Pflug? Seine Scheunen und Scheuern sind bis zum Giebel gefüllt, seine Keller sind voll der besten Weine, und seine Gemächer strotzen von Gold, Silber, großen Perlen und von den kostbarsten Edelgesteinen. Er sieht, daß da eine weitere Mühe zur Bebauung der Erde eine Tollheit und Narrheit wäre; er legt sich daher zur Ruhe und genießt sorglos seine großen Reichtümer.

03] Und wie gesagt, ein gleiches Gesicht kann und muß am Ende ein Überweiser machen. Der noch in so manchem Unkundige sucht und prüft und hat eine große Freude, wenn er irgendeine neue Wahrheit aufgefunden hat; der Überweise aber kann nicht viel mehr auffinden und ist darum offenbar notwendig träge geworden, während der Jünger in irgendeinem Weisheitszweige emsig ist und beinahe Tag und Nacht forscht, um über eine etwas mehr denn gewöhnlich verborgene Sache ins möglich klarste Licht zu kommen. Ich weiß daher für jetzt in dieser Sphäre zur Genüge. Was mir aber noch mangelt, das wird mich denn auch in der steten Tätigkeit erhalten. Habe ich recht oder nicht?«

04] Sage Ich: »Zuviel und zuwenig taugt nicht viel, aber immerhin noch besser, etwas zuviel als irgend etwas zuwenig; denn der einen Überfluß hat, der kann von solchem dann gar leicht denen mitteilen, die irgendeinen Mangel haben, was solchen stets gut zustatten kommen wird. Wer aber zuwenig hat, bei dem wird es dann mit dem Mitteilen wohl sicher seine sehr geweisten Wege haben. Darum in der wahren Weisheit etwas zuviel stets besser ist denn etwas zuwenig. Aber das sage auch Ich: Es wäre sogar keinem Engel gut, so er gleich Gott allwissend wäre!

05] Doch dafür ist von Gott aus auch schon gesorgt; denn sowenig ein Geist je die ganze Unendlichkeit Gott gleich erfüllen wird, ebensowenig auch wird je eines noch so vollendeten Geistes Weisheit alle die Tiefen der göttlichen Weisheit zu erforschen und zu erfassen imstande sein. - Verstehest du auch das?«

06] Sagt Cyrenius: »O ja, das verstehe ich, und es war dies schon von alters her ein Weisheitsspruch unter uns Römern und war auch schon gang und gäbe bei den Griechen und Ägyptern, und der Spruch lautete ganz kurz: Quod licet Jovi, non licet bovi (Was dem Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen nicht erlaubt: d.h.: Eines schickt sich nicht für alle.), und ich meine, daß dieser Spruch, obschon ein Eigentum der Heiden, wie sie von den Israeliten benamset werden, auch ganz gut hierher taugt.

07] Gott gegenüber werden Mensch und Engel wohl für ewig die lieben boves bleiben, und es ist das auch gut; denn ich wenigstens wäre für eine zu große Weisheit durchaus nicht zu gebrauchen. Es liegt ja in der Natur der Sache, daß jedes geschaffene Wesen am Ende allen Lebensreiz verlieren müßte, so es in der totalsten Unendlichkeit nichts mehr gäbe, was dem Menschengeiste nicht ebenso klar und bekannt wäre, wie einem Hausherrn die Gemächer seines Wohnhauses.

08] Darum ist das wohl höchst gut und überweise von Jehova eingerichtet, daß auch ein zwar allervollkommenster, aber dennoch geschaffener Geist in aller seiner Weisheit der Weisheit Gottes nie um ein Haarbreit näher kommen wird und näher kommen kann; denn was unendlich ist, kann von der Endlichkeit ewig nimmer erreicht werden!

09] Aber lassen wir nun das; denn darüber noch mehr Worte verlieren, wäre wahrlich sehr unnütz, da es noch eine Menge anderer Dinge gibt, deren Enthüllung uns mehr not tut als die Ausfertigung eines Maßstabes, mit dem der schwache Menschengeist die göttliche Weisheit bemessen könnte. Die Liebe steht offenbar höher denn alle noch so hohe Weisheit der Menschen und Geister.

10] Du sagtest ehedem, daß man die alte Seelennarbe durch das neue Gesetz der Nächstenliebe völlig heilen und sich dadurch von dem alten Erbübel ganz frei machen könnte, und es würde dann das vollste Bewußtsein des wahren, ewigen Lebens mit aller Kraft und Klarheit im Menschen wieder einkehren. Das wäre für den Menschen auf dieser Erde wohl der größte Gewinn; denn erst dadurch würde der Mensch ganz Mensch sein und würde auf der Erde schon im irdischen Leben entschieden Großes und Herrliches zu leisten imstande sein.

11] Mit dem die arme Menschheit stets quälenden Gefühle des sicheren Sterbens und Verschwindens vom Schauplatze des Lebens muß der Mensch am Ende allen Mut für eine höhere Tat verlieren, oder er muß sich am Ende in alle die tollen Weltergötzlichkeiten stürzen, um dadurch den Gedanken an den einstigen sicheren Tod zu verscheuchen und so das vergängliche Leben genießen, als wäre es ein ewiges. Es ist demnach von höchster Wichtigkeit, daß dem Menschen ein solches Gebot gegeben werde, durch dessen Beachtung er das einstige durch Adam verlorene Paradies in sich wieder finden und für ewig bewahren kann. Das Gebot der echten und wahren Nächstenliebe soll uns das Verlorene wiederbringen.

12] Aber da fragt es sich sehr, wie man solch ein allerwichtigstes Gebot der Ordnung Gottes gemäß zu beachten hat, um dadurch den großen von Dir verheißenen Zweck - sage - sicher und nicht halb, sondern ganz zu erreichen.«

13] Sage Ich: »Das ist von dir aus wahrlich eine gute und wahre Bemerkung, und Ich werde dir darüber eine richtige Antwort geben; aber vorerst wollen wir unsern alten Hausmann Markus auch einmal anhören, was er für Begriffe vom Nächsten hat, dem man alle Liebe zuwenden soll. Darauf erst werde Ich dann euch die volle und wahre Antwort mit der rechten Erläuterung darüber gehen. Und so sage uns, du lieber Markus, wen nach deiner Ansicht man so ganz wahrhaft für seinen Nächsten halten solle und soll ihm erweisen alle Liebe in der Tat!«


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