Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 5, Kapitel 138


Versuch des Essäers Roklus, Notlügen zu rechtfertigen.

01] Sagt Roklus: ”Alles, was Du, o Herr, nun geredet hast, ist nur zu wahr, und es läßt sich dagegen nichts einwenden! Aber da Du allem, was nur den allerleisesten Anschein eines Betruges an sich trägt, auch sogar dann streng entgegen bist, wenn dadurch einem Menschen im vollsten Ernste physisch und geistig geholfen werden könnte, so macht mich das offenbar nun sehr nachdenkend, da bei mir der durch tausend Erfahrungen bewährte Grundsatz feststeht, daß nun gar vielen Menschen durchaus nicht anders als nur auf dem Wege eines feinen Betruges geholfen werden kann, - was ich aber freilich keinen Betrug, sondern eine pure Staatsklugheit nenne.

02] Aufrichtig, Herr, nach meinen auf dieser Erde gemachten Erfahrungen gesprochen, ist gar oft so manchen Menschen nicht anders zu helfen als allein durch einen wohlgemeinten kleinen Betrug! Die Kinder muß man anfangs ja doch immer betrügen, ansonst man mit ihnen ja doch rein nichts ausrichten kann; und was würde man ihnen denn wohl nützen, so man ihnen sogleich mit der reinsten Wahrheit ins Gesicht führe?! Ich habe Dir ja bei einer früheren Gelegenheit die Sache doch auch als ein Mensch klar und deutlich auseinandergesetzt, daß es mir nie darum zu tun war, je einen Menschen zu seinem Nachteile zu hintergehen, sondern allzeit nur zu seinem so oder so gestaltigen Vorteile! Und das tat ich nur, weil ich zu klar zum voraus einsah, daß diesem oder jenem Menschen auf eine andere Weise durchaus nicht beizukommen war. Wenn nun das bei Dir auch als eine Sünde gilt, - ja, Herr, dann wird es wahrlich höchst schwer, ein Mensch zu sein!

03] Zum Beispiel: Ich gehe irgendwohin und treffe auf dem Wege als ein Heide einen stockblinden Erzjuden an, dessen überzelotischer Tempelfanatismus in einem jeden gleich eine ganze Legion der allerärgsten Teufel prognostiziert. Wenn ihn ein Heide anrührete mit seinem Wissen, so ist er ja unrein gleich auf ein ganzes Jahr und ist in solcher seiner eingebildeten Lage der unglücklichste Mensch, weil er da keinen Teil an den vielen Gütern des Tempels nehmen kann und darf. Wenn ich ihm sage, daß ich ein Heide sei - so er mich fragt, wer ich sei -, da läßt er sich eher alle Martern antun als sich von mir über einen höchst lebensgefährlichen Teil des Bergweges führen. Sage ich ihm aber so ganz fest, daß auch ich ein Jude aus Jerusalem sei, so wird er mir mit Freuden die Hand reichen und sich dann ganz allerdankbarst über die höchst gefährliche Wegesstelle führen lassen. Hab' ich den armen Blinden dahin gebracht, wo es für ihn zum Weiterkommen keine Gefahr mehr gibt und ihn schon der Duft seiner nun schon sehr nahen Heimat anzieht und er sich nimmer verirren kann, so empfehle ich mich bei ihm und ziehe frohen Mutes meinen Weg weiter. Der blinde Jude erfährt dann sein ganzes Leben lang von mir nicht eine Silbe mehr, und es wird ihm auch so leicht niemand sagen, daß derjenige Mensch, der ihn einst über die sehr gefährliche Wegesstelle geführt hatte, ein Heide war.

04] Nun sage mir ein vernünftiger und ehrlicher wohlmeinender Mensch, ob denn die gewiß höchst unschädliche Lüge nicht klüger und besser war, als so ich dem armen Menschen die Wahrheit gesagt hätte, daß ich nämlich ein Heide sei! Da sage ich Dir und jedermann tausend Male ins Gesicht, daß so eine Notlüge nur ein gelbsüchtiger und völlig gehirnkranker Narr aus dem schwärzesten Pharisäergremium (Gremium = Gemeinschaft) für eine Sünde erklären kann, - aber ein nur einigermaßen vernünftiger Mensch nimmer und ein Gott sicher noch um so weniger! Denn so hoch und weit verschieden können die diesseitigen und jenseitigen Lebensansichten ja doch nicht sein, daß man als rein geistig das, was alle reine Vernunft auf dieser Erde für gut und billig erkennen muß, als das geradeste Gegenteil ansehen müßte! Denn wenn jenseits für den reinen, Geist das schwarz und finster ist, was hier eine stets wohlwollende Seele für weiß und lichthell ansieht, da gehört entweder dieses oder das jenseitige Leben platterdings in ein Narrenhaus.

05] Herr, Du kennst mein ganzes Leben von der Wiege an und wirst mir schwerlich einen Moment in meinem ganzen Lebenslaufe anzeigen, in dem ich's mit jemandem je böse gemeint habe oder gar gewollt habe, jemandem einen noch so kleinen Schaden zuzufügen! Tausendmal will ich aus Deinem allmächtigen Gottesmunde verflucht sein, so mir das erweisbar ist! So ich aber dennoch ein Sünder dadurch geworden bin, daß ich bei besonders geistesschwachen Menschen gar sehr oft zur Politik meine leidige Zuflucht habe nehmen müssen, um ihnen nach meinem Herzensdrange und nach meiner menschlichen Erkenntnis etwas Gutes tun zu können, so muß ich offen gestehen, daß es mir dann sehr unangenehm ist, ein Mensch zu sein; da gestalte Du, o Herr, mich nach Deiner Allmacht nur zu einem Esel um, und Du sollst meinen Dank dafür haben!

06] Meine freilich nur menschlich vernünftige Ansicht ist diese: Ein jeder Mensch tue nach seinem besten Wissen, Erkennen und Gewissen, was ihm Rechtens als das Beste dünkt, sei friedsam und versöhnlich und tue der armen, leidenden Menschheit nach seinen Kräften Gutes, so muß seine Handlung auch von einem Gott als recht und gut und ordnungsgemäß angesehen und anerkannt werden, und kein Gott kann von dem Menschen als unfehlbar Seinem Geschöpfe und Werke mehr verlangen, als wozu und welche Fähigkeiten Er Selbst in ihn hineingelegt hat! Oder ist es möglich, daß dies ein höchst weiser Gott noch mehr von Seinem Werke fordern kann, als was und wieviel Er in dasselbe gelegt hat? Ich glaube, daß dies so hübsch schwer hergehen möchte und ungefähr das Gesicht hätte, als wenn jemand allen Ernstes aus einem ganz kleinen, kaum einen Eimer haltenden Fasse oder Schlauche zehn Eimer herausgießen wollte. Ich bitte Dich darum, o Herr und Meister, Dich in dieser Hinsicht wohl klarer auszudrücken; denn also, wie ich Dich ehedem verstanden zu haben glaube, ist nach Deiner Lehre gar keine nur einigermaßen vernünftige menschliche Existenz auf dieser Erde denkbar!

07] Ja, die Wahrheit, die heilige, muß den Menschen werden; sie müssen das Haus und seine Ordnung und Gerechtigkeit genauest kennenlernen, darin sie wohnen und eigentlich nach Deiner Verheißung ewig wohnen sollen. Aber die nackte, wenn auch noch so reine Wahrheit kommt mir wenigstens wie eine zwar sehr heilsame, aber sonst überaus bittere Arznei vor, die jeder nur einigermaßen mehr empfindsame Gaumen gleich wieder ausspuckt, wie sie ihn nur berührt hat. Was tut man aber? Man umhüllt die bittere Arznei mit etwas Süßem und Angenehmem, und der Kranke wird sie dann leicht hinabschlucken und ohne ein Fieber in seinen Magen bekommen, wo sie dann bald ihre heilsamen Wirkungen beginnen wird! Und das, meine ich, sollte auch mit dem Mitteilen der Wahrheit sein! Man gebe sie nie, besonders anfänglich, je anders denn verhüllt und enthülle sie erst so nach und nach! Da wird sie meines Erachtens eine beste Wirkung sicher nie verfehlen. Gibt man sie aber gleich enthüllt und nackt, so wird man gar oft und zuallermeist mehr Schaden verursachen als irgendeinen wahren Nutzen bezwecken.

08] Ich will hier kein Wort etwa zur Beschönigung unserer natürlichen Wunder fallen lassen und bin selbst der vollkommen überzeugten Meinung, daß wir uns da zu weit gewagt haben; aber das kann ich immer mit meinem besten Gewissen hinzufügen, daß wir selbst damit nie jemandem geschadet, sondern, nach unserem wohlerwogenen Wissen, stets nur, gewöhnlich doppelt, genützt haben. Erstens haben wir damit nur die Tränen oft gar zu trauriger Eltern getrocknet, was doch ganz gewiß nichts Schlechtes ist und sein kann, und zweitens haben wir damit Kinder ganz blutarmer Eltern allerbestens für die ganze Zeit ihres Erdenlebens versorgt und sie auf den Standpunkt gesetzt, daß sie in Häusern reicher Menschen den besseren Sitten der gegenwärtigen Weltordnung gemäß auch eine bessere Erziehung erhielten, während sie sonst in der größten Armut ohne alle Bildung zu wahren menschenähnlichen Tieren herangewachsen wären, wie es in dieser Zeit an solchen Beispielen wahrlich keinen Mangel gibt. Da entsteigt kein Engel den lichtvollen Himmeln und nimmt sich unterweisend solcher ärmsten Halbtiermenschen an; und tun wir doch offenbar besseren und gebildeten Menschen nach unserem besten Wissen, Erkennen und Gewissen solchen in einer möglichen Art und Weise etwas, so laufen wir Gefahr, vor Gott zu sündigen und von Ihm als Betrüger der Menschen erklärt zu werden!

09] Herr und Meister, Du hast gut lehren und reden, denn Dein Wille ist der Direktor der ganzen Unendlichkeit! Aber wir schwachen Menschen, wir Nichtse gegen Dich, fühlen nur stets den Druck, aber selten oder nie eine Erleichterung, und haben noch obendrauf die allerschiefsten Erwartungen dereinst im Jenseits.

10] Herr und Meister, wahrlich, Deine Lehren haben mich ehedem ganz aufgerichtet, und ich war voll der beseligendsten Erwartungen; nun aber bin ich ganz niedergedonnert und weiß mir nicht zu helfen, weil Du von mir Dinge verlangst, für deren Erfüllung ich mich mit meiner Vernunft nicht aussehe (auskenne), und wider meine Vernunft kann ich nicht handeln!“

11] Hierauf ward Roklus still und redete gar nichts.



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