Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 6, Kapitel 154
Die Notwendigkeit der Vergänglichkeit der Materie.
01] Sagte einer der Judgriechen: Aber Herr, da Du nun schon einmal wieder so im Zuge bist, uns gar überaus große Dinge zu enthüllen, so wolle uns auch gnädigst den Grund angeben, warum denn so ganz eigentlich nichts Materielles in seiner Art für ewig fortbestehen kann! Die Felsen verwittern, die größten Bäume, die oft beinahe zweitausend Jahre allen Stürmen getrotzt haben, wie allenfalls die Urzedern auf dem Libanon, sterben ab und vermodern so, daß von ihnen gar nichts übrigbleibt. Auch Seen und Meere vertrocknen, und kurz, man sieht auf der ganzen Erde nichts als ein fortwährendes Entstehen und Vergehen! Nur am gestirnten Himmel bleibt es stets noch so hübsch beim alten; denn dieselben Sterne mit ihren unveränderlichen Stellungen, die Adam geschaut hat, sind noch die gleichen, unveränderlichen und unvergänglichen. So Du aber sagst, daß auch sie dereinst vergehen werden, so läßt sich da allerdings die sehr gewichtige Frage aufwerfen: Wenn jene nach Deiner Aussage übergroßen Weltkörper schon sicher eine unaussprechlich lange Reihe von unseren Erdenjahren hindurch bestehen, so könnten sie ja ebensogut auch ewig fortbestehen. Wo ist die Zeit ihres ersten Entstehens, wer kann sie messen und nach Jahren oder gar nach Jahrtausenden zählen? Für unseren Menschenverstand bestehen sie so gut wie von Ewigkeit her und können auch ebensogut fürder die ganze Ewigkeit hin fortbestehen. Warum also müssen sie denn endlich doch vergehen?
02] Sagte Ich: Mein Freund, eben darum, weil sie eigentlich keine Materie, sondern in sich nur ein gerichtetes Geistiges sind. Ich habe euch ja schon bei einer andern Gelegenheit gesagt, wie alles sichtbar Erschaffene nichts als ein Gedanke Gottes ist, festgehalten durch den allmächtigen Willen Gottes.
03] Solange aber ein großer Gedanke Gottes durch Seinen Willen festgehalten wird, solange erscheint er auch als etwas für sich Bestehendes und ist dadurch gewisserart ausgeschieden von den zahllos vielen anderen Gedanken, damit er sich in sich selbst konsolidiere und für immer ein selbständiges Ich werde. Hat der Gedanke Gottes in sich selbst diese Aufgabe gelöst und sich nach allen Richtungen hin frei und selbständig gemacht, wozu sollte er dann noch länger durch die Macht des göttlichen Willens festgehalten und von allen anderen großen Gedanken Gottes als völlig ausgeschieden gehalten werden?
04] Wenn ein Mensch die innere, geistige Lebensreife vollständig erreicht hat - wozu er eines materiellen Leibes benötigte -, wozu wäre ihm dann noch eine weitere und längere und auch stets mühsamere Herumschleppung des Leibes nötig? Wenn ein Mensch ein Haus ganz fertig erbaut hat und es dann vollkommen bewohnbar ist, wird er dann mit dem fertigen Hause auch das Baugerüste um dasselbe stehenlassen?! Oder so du Fleisch in einem Topfe gehörig weich gekocht und es genießbar gemacht hast, wirst du es dann wohl also behalten samt dem Topfe? Sicher nicht; du wirst es samt der Brühe aus dem Topfe nehmen und den leeren Topf hinwegtun! Siehe, darum hat auf dieser Welt alles seine Zeit!
05] Du siehst einen Baum, der im Frühjahre voller Knospen ist. Würdest du da nicht auch sagen: "Warum denn diese vergänglichen Knospen?" Aber die Knospe schwillt an, entfaltet sich stets mehr und mehr, und es kommen Blätter und schöne, anmutige, duftende Blüten zum Vorschein. Du bewunderst sie, weil sie dir sehr gefallen. Aber sie fangen an, bald welk zu werden und fallen ab. Da fragst du wieder ärgerlich: "Warum denn diese Zerstörung der größten Pracht und erhebenden Schönheit des Baumes?" Ja, du hast recht, ein blühender Baum wäre wohl immerfort so recht anmutig anzuschauen; aber vom Schauen allein wird kein Mensch satt, und so muß offenbar die dem Fruchtkeime zum Beleben dienliche Blüte nach ihrem geleisteten Dienste wieder hinweggenommen werden, damit darauf die wirkliche Frucht sich frei für sich entwickeln kann. Und du ersiehst darauf bald eine Menge süßer Früchte auf des Baumes Zweigen, an denen du ein großes Wohlgefallen hast. Nun, sollen etwa die Früchte auch ewig mit dem Baume vereinigt bleiben?
06] Sagte der Judgrieche, der ein Bürger von Jerusalem war: Das, o Herr, sehe ich alles recht gut ein. Es geht eines aus dem andern hervor, und das sicher so weit und so lange hin, bis aus allen den vielen Vorgängen irgendein Hauptzweck erreicht ist. Aber warum muß denn auch der Baum, der oft viele Jahre hindurch den Menschen gute Früchte getragen hat, am Ende sterben, vermodern und völlig zunichte werden? Er dienete ja gut und muß doch einem andern den Platz räumen!
07] Sagte Ich: Siehe, alle Materie ist ein zeitweiliges Aufnahmegefäß von einem bestimmten Maße des geistigen Lebenselements! Von diesem entwickelt sich alljährlich ein bestimmter Teil, macht sich frei und geht in eine höhere Lebenssphäre über. Nach einer größeren oder oft auch minderen Anzahl von Jahren dieser Erde aber ist der letzte Lebenselementsfunke aus dem schon mehr hart und unbrauchbar gewordenen Baume entschwunden und in eine höhere Lebenspotenz übergegangen, und der Baum steht dann lebensleer da.
08] Sollte man nun dem alten, harten und unbrauchbar gewordenen Baume neue Lebenselemente einhauchen, damit sie von des Baumes schon zu grob gewordener Materie verdorben werden, gleichwie da auch verdorben wird selbst der beste Wein, so man ihn dummermaßen in ein altes, unreines Gefäß gibt? Ist es da nicht klüger, einen neuen Wein in neue und reine Gefäße zu tun und die alt gewordenen ganz zu verwerfen, besonders so man der neuen Gefäße in großer und nie versiegbarer Anzahl besitzt? - Was meinst du über diese Sache?
09] Sagte der Judgrieche: Herr, da hat jede Meinung ein Ende! Du allein hast die höchste Weisheit und kennst alle Verhältnisse in der ganzen Kreatur und hast sonach denn auch in allen Dingen allein alles Recht. Wir können Dich nur fragen und alles, was Du uns sagst, gläubig annehmen. Es ist alles also, wie Du, o Herr, es uns gnädigst erläuterst. Darin aber liegt auch der größte und allerbelebendste Beweis, daß eben Du in Deinem Geiste alles von Ewigkeit her also geordnet und geschaffen hast, was irgend nur immer da ist in der ganzen Unendlichkeit.
10] Dein Jünger Johannes hat Dir in seiner Einleitung zu dem aufgezeichneten Worte aus Deinem Munde das rechteste und wahrste Zeugnis gegeben, indem er sagt: "Im Anfang war das Wort, das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Das Wort ist Fleisch geworden und wohnte unter uns. Er kam zu den Seinen, und diese haben Ihn nicht erkannt."
11] Siehe, Herr, also ist es denn auch! Du kamst zu uns Menschen, und wie wenige haben Dich erkannt, und wie viele erkennen Dich trotz all der großen Zeichen und weisesten Lehren auch jetzt noch nicht! Es ist wahrlich sogar merkwürdig, wie ungeheuer dumm und verblendet die Menschen da sind!
12] Sagte Ich: Es ist schon also, du vermagst aber dennoch nichts dagegen zu machen; denn den freien Willen dürfen wir ihnen nicht nehmen, weil sie da aufhören würden, Menschen zu sein. Ihnen noch mehr Zeichen geben, wäre eine vergebliche Mühe; denn wir würden damit nichts erreichen als nur das, was Ich euch klar auseinandergesetzt habe bei der Gelegenheit, als ihr meintet, daß Ich auch hier die Zeichen vom Euphrat wirken solle.
13] Wir haben für dieses Volk nur das Wort; wem dieses nicht die Augen öffnet, dem öffnet sie auch kein Zeichen. Es werden vor ihnen aber schon noch Zeichen gewirkt werden, - aber nicht zu ihrem Aufkommen, sondern zu ihrem offenbaren Untergange.
14] Ich sage es euch: Das letzte Zeichen, das hier in Jerusalem gewirkt wird, wird sein nahe gleich dem des Propheten Jonas vor Ninive, wie er drei Tage im Bauche eines großen Fisches zubrachte. Und dieses Zeichens wegen wird dann das große Gericht über sie losgelassen werden, das diese Täter alles Übels verschlingen wird, wie da verschlingt ein feuriger Drache seine elende Beute. - Aber nun lassen wir das und gehen noch ein wenig ins Freie, bevor die Sonne untergeht!
15] Das war allen recht, und wir erhoben uns vom Tische und stiegen wieder auf unseren Hügel, von dem aus man auch einen Teil von Jerusalem übersehen konnte.