Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 6, Kapitel 110


Rede des Schriftgelehrten über das Wesen Gottes.

01] Sagte der Jünger: ”O du meine liebe, weise Heidenpriesterin! Du redest zwar nach deinem Begriffe weise und hast von der guten Gottheit eben keinen verwerflichen Begriff, - aber du kennst dessenungeachtet das wahre Wesen Gottes nicht, und würdest du es kennen, dann würdest du mit den Weisen der Vorzeit ausrufen: "Schrecklich ist es für den Sünder, in die Hände des allmächtigen Gottes zu geraten!" Gott ist wohl voll der höchsten Liebe gegen jene, die Ihn erkennen, lieben und Seine Gebote halten, - aber tausendmal Wehe denen, die Ihn nicht erkennen wollen oder, so sie Ihn schon erkennen und um Seine Gebote wissen, sich aber in ihrem Herzen doch von Ihm abwenden und Seine Gebote nicht halten!

02] Siehe, die Geschichte weist uns gar erstaunliche Beispiele von den glühendsten Zorngerichten über ganze Völker, die Gott nicht mehr erkennen wollten und nur taten, was ihren Sinnen frönte! Weil aber Gott derlei grobe und ganz verstockte Sünder und Gegner Seines heiligen Willens allzeit mit den unnachsichtlichsten, schärfsten Strafen heimsuchte und dieselben oft auf Kinder und Kindeskinder ausdehnte, so können wir nicht umhin, als ganz bestimmt anzunehmen, daß in dem einzig und alleinig wahren Gott auch Zorn und Rache wohnt, und das um so bestimmter, als solche Eigenschaft auch in allen Seinen Geschöpfen nur zu vorherrschend anzutreffen ist!

03] Es kommt nun bei uns Geschöpfen nur darauf an, in welche der in uns vorhandenen Eigenschaften wir uns vorwaltend hineingelebt haben und nach denselben handeln; denn in denselben und gleichen Eigenschaften wird sich auch Gott gegen uns verhalten. Sind wir gut, weise, liebevoll gegen Gott und unsere Nebenmenschen und barmherzig, demütig und geduldig, so wird Gott gegen uns eben auch also sein zu jeder Zeit. Er wird in uns erwecken das Bewußtsein des ewigen Lebens, und wir werden strotzen von allen Segnungen. Sind wir aber das Gegenteil, dann wird auch Gott gegen uns gleich also sein und uns züchtigen in einem fort, und das auf so lange, als wir uns nicht völlig nach Seinem Willen gebessert haben. Und siehe, darin besteht denn auch die höchste Gerechtigkeit Gottes, ohne welche Eigenschaft Gott unmöglich ein vollkommen wahrer Gott wäre!

04] Denn Gott, der allsehende, allwissende und allfühlende, muß ja sicher doch auch zu beurteilen imstande sein, was da gut und böse ist, das heißt, was da ist entweder in Seiner ewigen Ordnung, oder was da ist wider dieselbe, und muß dann das Geschöpf, das Er mit Vernunft und freiem Willen begabt hat und zu einem höheren Lebenszwecke auf dieser Erde erhaben will, durch eine gerechte Erziehung auch entweder belehren oder strafen.

05] Unser allein wahrer Gott ist daher alles in allem. Er ist die höchste und reinste Liebe, aber auch die höchste und unerbittlichste Gerechtigkeit Selbst. Meine Liebe, so du Myriaden von Jahren fortlebtest, handeltest aber immer wider den erkannten Gotteswillen, so würde Er dich nicht erhören, so du Ihn auch Tausende von Jahren auf den Knien bätest, daß Er dich von deinem Elende befreien möchte. Aber sobald du dich ermannst, allen Ernstes Seinen Willen zu dem deinen durch die Tat zu erheben, dann wird dich Gott auch erhören und wird dir helfen nach dem Maße, in welchem du Seinen Willen angenommen hast. Siehe, das ist ein wahrer und richtiger Begriff von dem allein wahren Gott, der den Himmel und diese Erde und alles, was da ist, aus Sich erschaffen hat! - Was sagst du nun dazu?“

06] Sagte die Priesterin: ”Ja, ja, das klingt ein wenig besser und hat viel aus der Natur Begründetes für sich! Aber ich bin denn ein selbständig denkendes Wesen, habe Verstand und Vernunft, und ich suche und finde keinen Gott, - und wo ist der, der mir kundtäte den erwiesen wahren Gotteswillen, auf daß ich dann nach demselben handeln könnte? Oder habe ich vor diesem meinem Dasein je mit dem treuest wahren Gott irgendeinen Kontrakt abgeschlossen, in dem die Bedingungen festgestellt worden waren, unter denen ich in diese Welt hätte geboren werden sollen, und was dann tun?

07] Nein, von dem ist nirgends etwas zu erfragen, sondern der Mensch kommt ohne sein Wissen und Wollen in diese Welt, muß zuerst wegen seiner Unbehilflichkeit und Schwäche sich gar viel von seinen starken Eltern gefallen lassen, was jedoch gut ist, weil der höchst schwache Kindmensch ohne ihre Hilfe sicher in der kürzesten Zeit zugrunde gehen müßte. Mit der Zeit aber wird das Kind ein starker Mensch, und das zu strenge Gehorchen dem elterlichen Willen wäre da bedeutend gemäßigter, - aber da kommt nun der Gehorsam gegen einen höheren Willen Gottes und hemmt den Menschen in allen seinen freien Lebensrichtungen bis zum Grabe hin. Nun, das wäre denn ja schon recht, wenn man sich zuvor einem Gotte dafür verbindlich gemacht hätte; aber von dem ist nirgends auch nur eine Silbe zu erfahren und zum lebendig erinnerlichen Bewußtsein zu bringen!

08] Wir Menschen sind offenbar durch eine große Macht und Kraft ins Dasein gerufen. Das lehrt uns unser Selbstbewußtsein. Wer aber diese Kraft ist, und wie sie beschaffen sein mag, das ist eine ganz andere Frage. Wir bringen höchstens so viel heraus, daß sie irgend da sein muß, weil denn doch eine jede Wirkung ihre Ursache haben muß. Aber wo liegt diese Ursache, was ist sie, wie sieht sie aus, und wie wirkt und handelt sie? Wer kann sie suchen, wer kann sie finden und wer vernehmen ihre Stimme und ihren Willen und wer ihr Angesicht schauen?

09] Was wir von dieser Kraft und Macht wissen, das wissen wir bis jetzt nur aus dem Munde und aus der frommen Phantasie der Menschen, und zumeist von solchen, die durch ihre eigentümlichen Fähigkeiten auch mit den geheimen Kräften der großen Natur näher vertraut waren und sich dieselben oft auch in einer staunenswerten Ausdehnung auf ihre Lebenszeit dienstbar machen konnten. Diese Art freilich seltener Menschen, die wir gewisserweise Halbgötter nannten, benutzten ihre Naturgabe denn auch gewöhnlich dahin, daß sie den Menschen im Namen eines oder auch mehrerer Götter Lehren und Gesetze gaben, und die leichtgläubigen und blinden Völker glaubten ihnen denn auch ungezweifelt fest und halfen den Wundertätern noch, über sie und ihre Nachkommen nicht selten unerträglich harte Gesetze zu machen und sie mit den grausamsten dies- und jenseitigen Strafen zu sanktionieren. Wenn dann auch ebenso weise und mit vielen außerordentlichen Eigenschaften begabte Menschen dem alten, verrosteten Unsinne mit dem besten Willen von der Welt ein Ende zu machen sich vornahmen, so wurden sie bald oft ganz traurige Opfer der alten, grausamen Gesetze. Und das ist stets also gewesen auf dieser Erde und wird auch fürder also bleiben, weil unserer Erde Natur und Temperatur also ist, daß auf ihrem Boden etwas wahrhaft Gutes nie lange währt, aber desto hartnäckiger und beständiger das Schlechte und Arge.

10] Streue aus den reinsten Samen in ein sorgfältig gepflegtes Erdreich, und es wird zwischen demselben dennoch stets eine Menge Unkraut zum Vorscheine kommen! Streue des Unkrautes Samen in ein Erdreich, und du wirst nicht eine Weizenähre mitten aus dem Unkraute von selbst emporkommen sehen! Also muß der Mensch das Gute stets mit einem besonderen Fleiße pflegen, und er hat dabei vollauf zu tun, um es vor allerlei Verderben zu beschützen. Aber trotz allem Fleiße und Eifer so mancher sehr achtenswerter Menschen geht dann mit der Zeit dennoch alle ihre große Mühe derart in Trümmer wie eine große, schöne Stadt, die einst der Glanz der Erde war, von der man später aber kaum mehr weiß, wo sie gestanden ist.

11] Ich sage es dir, daß du mir ehedem wahrlich eine ganz annehmbare Definition des Begriffes Gott gegeben hast; aber du als Redner bist ein Mensch, und ich, deine Zuhörerin, bin auch nichts anderes, und ich kann dir da nichts anderes sagen als: deine Erörterung war gerade der reineren Vernunft nicht zuwider, - aber es fehlt ihr dennoch das Wichtigste, nämlich der notwendig klare Beweis, daß es im Ernste einen solchen Gott gibt, von dem du recht Gutes und Annehmbares ausgesagt hast. Kannst du das, dann hast du an uns allen ein gutes Werk getan, und wir werden dich zu loben wissen.“

12] Sagte der Schriftgelehrte: ”Diesen von dir verlangten Beweis kann dir niemand anders geben als nur du allein dir selbst, - auch Gott nicht; denn der muß erst durch die Tätigkeit nach dem wahren, geoffenbarten Willen Gottes in dir selbst wach werden! Denn darin liegt eben jenes Wahrzeichen für die Erlangung des ewigen Lebens als eine lebendig wahre Bestätigung, daß der den Menschen geoffenbarte Wille Gottes nicht eines Menschen, sondern des ewig wahren und lebendigen Gottes Wort ist, das in sich selbst Leben, Liebe, Kraft und Weisheit ist. - Mehr kann ich dir nicht sagen, da dieses allein jedem genügt, der danach leben und tun will; mit allem Hinundherkritisieren aber läßt sich für das Leben der Seele ohnehin nie etwas gewinnen. Willst du aber noch mehr, da wende dich nun nur an unseren Herrn und Meister, der wird dir schon noch ein mehreres zu sagen sehr imstande sein!“

13] Sagte die Priesterin: ”Freund, das hätte ich auch ohne solchen deinen hier ganz unnötigen Rat gewußt! Du aber hast gleich mit uns zu reden angefangen, und so verlangte es die bessere Lebensart, mit dir zu reden; nun aber scheint es mit deiner Weisheit am Ende zu sein, und so verweisest du mich an den großen und weisesten Meister! Ist auch recht; aber hättest du das gleich anfangs getan, so wäre das mir und uns allen lieber gewesen.“



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