Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 10


Kapitelinhalt 169. Kapitel: Materialistische Kritik des Oberstadtrichters an der Entwicklung des Menschen.

01] Sagte Ich: »Derlei Gläubige, wie du einer bist, habe Ich schon viele bekehrt, denn sie sind Mir um vieles lieber als die Irr- und Abergläubigen, - und so werde Ich auch mit dir leicht und bald zurechtkommen. Doch jetzt kommen die Fische! Nach dem Abendmahl werde Ich mit dir darüber ein Weiteres sprechen.«

02] Als Ich solches zu dem Oberstadtrichter gesprochen hatte, da wurden auch schon die Fische, bestens bereitet, in mehreren größeren Steinschüsseln in das Gastzimmer gebracht, nebst allem Tischgerät, das zum leichteren Verzehren solch eines Abendmahles nötig ist. Wir nahmen alsbald jeder einen Fisch auf den Teller und verzehrten ihn auch bald, da er ganz nach Judenart bereitet war und man beim Essen mit dem Auslesen der Gräten nichts zu tun hatte.

03] Dem Oberstadtrichter schmeckte der Fisch so gut, daß er sich noch einen auf den Teller legte. Und als er auch diesen verzehrte, sagte er: »Großer Herr und Meister, das Leben hat doch auch etwas Angenehmes, was der Tod selbstverständlich nicht haben kann, und das Angenehme besteht darin, daß man dann und wann das Glück hat, unter guten und weisen Freunden sich zu befinden und zweitens bei appetitvollem Magen mit einer wohlschmeckenden Speise und darauf mit einem Becher wohlschmeckendsten Weines sich zu stärken.

04] Ja, unter solchen Umständen möchte der Mensch freilich lieber ewig fortleben, als sich nach einem kurzen Dasein von einem allzeit elenden und schmerzhaften Tode erwürgen zu lassen, in welcher Hinsicht ich mit der gesamten Natur und ihren stets gleich wirkenden Kräften noch niemals einverstanden war und sein konnte.

05] Weil der Mensch schon einmal sterben muß, so könnte er ja auch auf eine angenehme und sein ganzes Wesen süß entzückende Weise sterben; aber nein, er muß für das bißchen zumeist sehr kummervolle Dasein am Ende noch auf das unbarmherzigste und schmählichste gemartert werden, bis er endlich von seiten irgendeines allwaltenden Schicksals der hohen Gnade gewürdigt wird, für alle ewigen Zeiten zu sein aufzuhören.

06] Diese Einrichtung in der sonst so wundervollen Natur ist wahrlich ein Etwas, das jedem bieder denkenden Menschen als im höchsten Grade widerwärtig, verächtlich und verwerflich erscheinen muß, sogar dem, der irgendwie noch nach einem wohlverwahrten Aberglauben in seinem Fleische an eine ewige Lebensfortdauer seiner armen Seele glaubt; es wäre ihm gewiß auch lieber, einen angenehmeren Abschied von dieser jammervollen Welt zu nehmen, als einen solchen, wie er gewöhnlich besteht!«

07] Sagte Ich: »So bist du ein scharfer Schöpfungskritiker und mit der Einrichtung aller bestehenden Lebensverhältnisse auf dieser Erde gar nicht zufrieden? Was ist dir denn nebst dem, was du schon bekrittelt hast, noch nicht recht?«

08] Sagte der Oberstadtrichter: »Aber, großer Herr und Meister, wenn ich alles bekritteln wollte, was mir mit dem besten Rechtsgrunde in der Einrichtung dieser Welt nie möglich als recht und billig erscheinen kann, da hätte ich ein ganzes Jahr lang zu reden! Aber ich will mich als Rechtsfreund ganz kurz fassen und nur einige Hauptsachen berühren; alles andere läßt sich dann ohnehin von selbst denken.

09] Siehe einmal die elende Geburt des Menschen, der gewisserart als Krone der schöpferischen Eigenschaften der Naturkräfte besteht! Warum ist denn seine Geburt und sein Auftreten in der Welt nicht wenigstens ein derartiges wie das der Tiere und namentlich der Vögel in der Luft, die wenige Tage nach ihrem Auftreten in dieser Naturwelt schon zum vollen Gebrauch ihrer Lebenskräfte gelangen und sich derselben nahezu bis an ihr Ende zu erfreuen haben?

10] Aber nein, der Mensch muß elender als jegliches Tier in diese Welt gelangen, nackt, ohne Kräfte, unbehilflich wie irgendein auf dem Wege liegender Stein!

11] So seine Eltern nicht durch eine Art instinktmäßige Liebe gezwungen wären, den neuen Weltbürger so lange zu pflegen, bis er nur das Glück hat, so eine Art Halbmensch zu werden, so wäre es um das Dasein und Fortbestehen eines jeden in diese Welt geborenen Menschen derart geschehen, daß er nach der Geburt nicht zwei Tage lang das Leben fristen könnte.

12] Ich will aber da noch die Pflege eines neugeborenen Kindes von seiten seiner Eltern ein, zwei bis drei Jahre lang mir gefallen lassen; aber oft über zwölf, ja manchmal über zwanzig Jahre hinaus, bis das Kind durch alle Sorgfalt seiner Eltern dahin gebracht wird, sich endlich in der Welt selbst fortbringen zu können, ist wahrlich zu viel und auch zu dumm und macht der schöpferischen Eigenschaft der wirkenden Naturkräfte unmöglich eine Ehre, sondern in allem das Gegenteil.

13] Hat sie den Menschen keine bessere Entstehung zu verleihen vermocht, so hätte sie mit der Hervorbringung derselben wohl für ewige Zeiten daheimbleiben können; denn dadurch hat sie sich wenig Lob bei der gebildeten Menschheit auf der Welt erworben. Ich will aber diesen großen Unfug der schöpferischen Natur nun nicht gar zu großartig beanstanden.

14] Hat diese Natur schon einmal um jeden Preis auf dieser Erde in der Gestalt des Menschen ein denkendes und seiner selbst bewußtes Wesen haben wollen, aus dem Grunde, damit dieses Wesen seinen Schöpfer erkenne, Ihn lobe und Ihm die Ehre gäbe, so hätte sie oder dieser Schöpfer für den Menschen einen solchen Bestandspunkt festsetzen sollen, in welchem der Mensch es in seinem Denken wenigstens so weit wie ich gebracht hätte; dann hätte er in eine unzerstörbare Festigkeit eintreten sollen und in dieser also weise, stark und gesund fortbestehen, gleichwie auch die Erde in allen ihren Hauptteilen wenig verändert fortbesteht, und so der Mond, die Sonne und die andern Sterne.

15] Aber nein, der Mensch erreicht zwar etwa nach dreißig oder längstens vierzig Jahren wohl einen ähnlichen Standpunkt - wenn überhaupt seine ursprünglichen Lebenskräfte danach eingerichtet sind, was aber zu einer Seltenheit gehört, da beinahe die meisten Menschen glücklicherweise schon als Kinder wieder dahin zurückkehren, woher sie gekommen sind. Der in allem stark gewordene Mensch fängt aber bald nach seinem obersten Lebensstandpunkte mehr oder weniger zu siechen an, und hat er das Glück, etwa gar siebzig, achtzig oder neunzig Jahre alt zu werden, so ist er darum nicht zu beneiden; denn solch ein Alter ist kein Leben mehr, sondern nur eine stets kompliziertere Krankheit, die ihn nach und nach, so wie jeden andern Menschen, zum Tode und zum Nichtsein befördert.

16] Wozu das? Wie kann einer irgend schöpferischen, weisen Kraft das als gut, gerecht und zweckdienlich vorkommen, was doch jede nur einigermaßen geweckte menschliche Vernunft als unweise und unzweckmäßig verwerfen und als etwas Böses, Arges und Rechtswidriges verdammen muß?

17] Mein lieber großer Herr und Meister, das ist mein Hauptgrund, auf dem bauend ich auch jeden andern Schöpfungs- und Hervorbringungsgrund der schöpferischen Natur im gleichen Maße als verwerflich und als völlig unweise erklären muß, und ich muß noch am Ende diejenigen Menschen loben, die sich in einen allerfinstersten Aberglauben haben hineinlullen lassen; denn sie finden in demselben einen seligen Vergeltungsgrund für alle ihre auf dieser Welt ausgestandenen bitteren Leiden.

18] Aber selbst diese nach dem Leibestode zu erwartende Seligkeit ist unter derartige Zwang- und Trugschrauben gestellt, daß einem ehrlichen Menschen über die Bedingungen, wie man zu einer solchen Seligkeit gelangen kann, das Hören und Sehen vergeht, weil dabei die Möglichkeit des Nichterlangens eine überaus breite Straße bildet, die Möglichkeit des Erlangens aber auf einen so steilen, schmalen und dornigen Pfad gestellt ist, daß man am Ende schon lieber gar nicht selig werden wollte, als sich das lebenslange Emporklimmen unter allen Torturen und Foltern des Lebens gefallen zu lassen.

19] Und jetzt, Herr und Meister, habe ich ausgeredet in meiner echt römischen und stadtrichterlichen Weise, und nun wolle Du die Güte haben, mir etwas Besseres zu sagen, als ich Dir zu sagen imstande war!«



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