Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 10


Kapitelinhalt 180. Kapitel: Jesus über die Entartung der jüdischen Lehre.

01] Als alle die Anwesenden diese höchst bedeutungsvolle Inschrift gelesen hatten, da waren sie über die Maßen überrascht und erstaunt, besonders aber die drei Römer und die etlichen Pharisäer.

02] Denn es kamen noch einige dem Dismas und Barnabas nach und sagten selbst: »Ja, ja, wunderbar anzusehen und wahr, was da geschrieben steht! Der alte Bund mit Abraham ist zu Ende und hat keine Geltung und keine Wirkung mehr; denn wir wissen es ja alle, daß die Wirkung der Lade des Bundes schon nahe vor dreißig Jahren so gut wie gänzlich aufgehört hat, nur dem Simon und Zacharias war sie noch in ihrer gewöhnlichen Kraft bekannt. Der Stab Aarons grünte nicht mehr, und die sieben Schaubrote wurden von den Motten zu Staub zernagt. Nur die beiden steinernen Tafeln blieben noch; aber ihre Schrift wurde von Jahr zu Jahr unleserlicher, und es war daher notwendig, die ganze alte Bundeslade mit Ausnahme ihres Goldes und der beiden großen Cherubim schon vor zwanzig Jahren zu kassieren und dafür eine neue von gleichem Holze von einem der ersten und besten Schreiner anfertigen zu lassen, sie nach der Form der alten mit dem Golde zu beschlagen, die beiden Cherube auf sie wieder hinaufzustellen; und in der Mitte der Lade, aus der die Rauchsäule aufstieg oder zu Zeiten auch eine Feuersäule, mußte sie also eingerichtet werden, daß man entweder frisch angefachte Kohlen hineinlegen und dann Weihrauch und anderes wohlriechendes Harz daraufgeben kann, damit eine Rauchsäule gebildet wird, welche aber das Allerheiligste derart nach allen Seiten anfüllt, daß man darin kaum bestehen kann, und die Feuersäule muß mit dem angezündeten Naphtha bewerkstelligt werden.

03] Der damalige Hohepriester war freilich der Meinung, es werde mit der neu aufgerichteten Bundeslade ebenso gehen, wie es mit dem neu aufgebauten Tempel nach der babylonischen Gefangenschaft gegangen ist; aber er hatte sich sehr geirrt. Denn mit der neuen Bundeslade ging es gar nicht mehr, - daher sich die späteren Hohenpriester auch gar nichts mehr daraus machten, von den Römern und Griechen gegen ein erlegtes Opfer das Allerheiligste ebenso besichtigen zu lassen wie irgend etwas anderes; denn es geschah niemandem in der Nähe der neuen Bundeslade irgendein Leid.

04] Wir Pharisäer und Schriftgelehrten sind darüber denn auch lange schon im klaren, daß es mit dem alten Bunde vollends zu Ende ist; allein das Volk muß man denn doch, solange es geht, im alten Glauben erhalten, und besonders darum, weil man ihm dafür keinen besseren Glauben geben kann, und zweitens, damit dem Tempel mit seinen Dienern die Einnahmen bleiben, ohne welche weder der Tempel noch seine Diener weiter fortbestehen könnten.

05] Und darin liegt auch der Hauptgrund, aus welchem eben dieser Herr und Meister, der vor uns als der allein wahre Stifter eines ewigen, neuen Bundes nun erkannt worden ist, von den Templern gar so sehr gehaßt wird; denn die Templer sehen wohl ein, daß Seine Lehre voll göttlicher Kraft ist, aber sie wissen es auch nur zu gut, daß es mit ihnen völlig aus ist, sobald sie selbst an dieser neuen Lehre halten und ihr vollen Eingang beim Volke verschaffen.

06] Es wird ihnen aber das - was sie recht gut einsehen - für die Folge sehr wenig nützen, da es bereits viele im Volke wissen, daß die alte Bundeslade ihre Kraft verloren hat und die neue keine andere Kraft besitzt, als die ihr die Menschen durch ihre plumpe Kunst verleihen.

07] Wir aber selbst noch mit dem Tempel in Verbindung Stehenden können weder pro noch contra etwas tun, sondern wir wollen in beseligender Hoffnung abwarten, was dieser allein wahre Herr Himmels und der Erde tun wird, und wollen für die Zukunft im vollsten Glauben an Ihn und in aller Liebe zu Ihm verharren. Daß Er das Beste und Zweckmäßigste verordnen wird, dessen sind wir alle lebendigst überzeugt.«

08] Nach diesen Worten sagte der Oberstadtrichter: »Ich gehöre auch zu denen, die die neue Bundeslade im Tempel gesehen haben und dabei die Überzeugung gewannen, daß an dem Gottglauben der Juden ebensowenig gelegen ist wie an dem Götterglauben der Heiden. Diese sind wenigstens geschickter in allerlei Zauberei und können dem blinden Volke noch lange hin einen wirksamen blauen Dunst vormachen; aber mit der Rauch- und Feuersäule im Allerheiligsten im Tempel zu Jerusalem hat es seine größte Not, und die Priester des Tempels tun gut für sich, so sie dem blinden Volke noch weiszumachen trachten, daß die alte mosaische Bundeslade noch in ihrer vollen Wirksamkeit ist. Wird aber das Volk einmal erfahren, daß das schon lange nicht mehr der Fall ist, dann können die Priester zu Jerusalem eiligst das Weite suchen, sonst werden sie beim Volke nicht die besten Tage erleben.«

09] Hierauf wandte er sich an Mich und sagte: »Herr und Meister, der Du uns nun mehr denn zur Genüge handgreifliche Beweise von Deiner Göttlichkeit gegeben hast, sage mir, ob ich nun recht geredet habe oder nicht?«

10] Sagte Ich: »Vollkommen; denn kein Betrug kann sich für lange hin halten, gleich wie auch die Nacht nicht, so die Sonne einmal aufgegangen ist.

11] Daß der Tempel samt seinen Dienern und samt der ganzen Stadt Jerusalem schon in jüngster Zeit völlig für alle Zeiten der Zeiten zugrunde gehen wird, dessen kannst du vollkommen versichert sein; nicht ein Stein wird auf dem andern bleiben! Nur um das einzige a können die Juden von Jerusalem bitten, daß ihre große Flucht nicht im vollsten Winter oder an einem Sabbat geschehe; denn da würde es ihnen noch viel jämmerlicher ergehen denn zu einer besseren Jahreszeit oder an einem Werktage.« (a Matthäus.24,20; == Markus.13,18;  ⇒ jl.ev06.173,07*;  jl.ev10.215,19-20  gm.pred.053)

12] Als Ich dieses ausgesprochen hatte, verging die Schrift über und unter der Sonne, und die Nebel im Jordantale fingen an, sich zu verflüchtigen, weil die Sonne mit ihren Strahlen die Gegenden des Gelobten Landes zu bescheinen anfing.

13] Der Oberstadtrichter machte die Bemerkung: »Es ist schade, daß die Jerusalemer die Sonne mit der Ober- und Unterschrift nicht zu erschauen vermochten; denn das hätte sie doch ganz außerordentlich nachdenkend über eine solche Erscheinung machen müssen!«

14] Ich aber sagte: »Eben darum, daß sie solches nicht sehen sollten, ließ Ich es zu, daß alle diese Gegenden des Jordans ein dichter Nebel zuhüllen mußte; denn die an der Finsternis Freude haben, sollen von ihr auch ihren Lohn ernten!«

15] Bei dieser Gelegenheit ersah man eine flüchtige Gazelle, wie sie von einem Schakal verfolgt wurde. In kurzer Zeit hatte der Schakal die Gazelle eingeholt und sich an ihr sein Morgenmahl bereitet, und hatte, etwa fünfhundert Schritte von uns entfernt, eben nicht lange zu tun, mit seinem erjagten Morgenmahle fertig zu werden. Darauf begab er sich ganz langsam weiter gegen Süden hin, um sich irgendwo vielleicht noch ein Mittagsmahl zu erjagen.

16] Aber da flog ziemlich hoch in der Luft ein arabischer Riesenaar, der ersah aus seiner Höhe bald den schleichenden Schakal, stieß aus seiner Höhe pfeilschnell auf ihn nieder und trug ihn trotz allen Sträubens hoch in die Luft empor. Dann ließ er ihn eben auf eine Stelle fallen, die weithin sehr steinig war. Begreiflicherweise gab das dem Schakal den Tod, und der Adler sank bald herab und überzeugte sich, daß der Schakal wirklich tot war, nahm ihn abermals in seine Krallen und flog mit ihm südwärts zu einem günstigen Punkt, an dem dann der Schakal samt seiner aufgezehrten Gazelle dem Riesenaar zum Frühstück dienen mußte.

17] Nach dieser kurzen Szene sagte der Oberstadtrichter: »Herr und Meister, diese Art gegenseitiger Verzehrungsszenen unter den Tieren und die schweren Krankheiten vor dem Tode eines Menschen waren mir immer - bei der weise sein sollenden Einrichtung irgend eines oder auch mehrerer Götter - ein stets unweiser und grausamer Anblick. Du wirst zwar schon wissen, warum alles das so ist und sein muß; aber unsereiner kann sich selbst beim besten Willen doch keine klare Vorstellung davon machen!«

18] Sagte Ich: »Darüber wird dir schon noch die Klarheit kommen! Nach dem Morgenmahle wird sich schon eine Gelegenheit finden, davon zu reden; jetzt aber wollen wir auf einen Augenblick noch Moses sehen und auch den Engel, der um seinen Leichnam stritt.«

19] Als Ich dieses gesagt hatte, standen Moses und der Erzengel Michael vor Mir, verneigten sich vor Mir und lobten und priesen Meinen Namen. Darauf verschwanden sie, und wir erhoben uns und begaben uns in die Stadt, allwo schon das Morgenmahl auf uns wartete.



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