Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 10


Kapitelinhalt 203. Kapitel: Der leuchtende Stein von der Sonne.

01] Sagte darauf Raphael: »Siehe, du mein lieber Freund und Bruder, nach der Sonne hin, die jetzt schon stark im Westen steht! Wie weit meinst da wohl, daß dies Gestirn von hier entfernt ist? Ich weiß aber, daß du dieses nicht weißt, und so ich dir die Entfernung nach eurem irdischen Feldwegmaßstabe ansagte, so würdest du die Zahl nicht verstehen, weil dir das arabische Zahlengebäude nicht bekannt ist und mit euren römischen Zahlen sich eine so große Zahl nicht ausdrücken läßt. Aber das weißt du wohl, wie schnell ein abgeschossener Pfeil den Weg von 50-100 Schritten zurücklegt; er wird dazu nicht viel über vier Augenblicke benötigen, und es ist somit der Flug eines Pfeiles die dir bekannte schnellste Bewegung auf der Erde. Und siehe, ein von der Erde nach der Sonne abgeschossener Pfeil, so er so weit fortfliegen könnte und die Anziehungskraft der Erde ihn daran nicht hinderte, würde zu solch einer Reise, von hier bis zur Sonne nämlich, einer Zeit von nahezu fünfzig Jahren benötigen, bis er eben in der Sonne ankäme!

02] Daß ein Mensch mit seinen Füßen wohl mehrere Hunderte von Jahren vonnöten hätte, versteht sich von selbst. Und was meinst du denn, eine wie lange Zeit ich dazu benötigen würde, um von hier in die Sonne und wieder zurückzugelangen?«

03] Sagte der Oberstadtrichter: »Ja, mein lieber himmlischer Freund, wie ich es jetzt einsehe, so wirst du zu dieser Reise auch nicht längerer Zeit bedürfen, denn von hier nach Rom und zurück.«

04] Sagte Raphael: »Da hast du recht geantwortet, - und siehe, während ich eben nun mit dir rede, war ich auch schon in der Sonne und wieder zurück! Zum Beweise dessen brachte ich dir auch ein kleines Angedenken aus der Sonne mit.«

05] Hierauf fuhr Raphael mit seiner Hand in seines Rockes Tasche, zog einen nahezu der Sonne gleich leuchtenden Stein hervor und zeigte ihn dem Oberstadtrichter (mit den Worten): »Siehe, derlei Steine gibt es auf der Erde nicht; aber auf dem großen Sonnenweltkörper, besonders in dessen Mittelgürtel, den du dereinst auch näher kennenlernen wirst, gibt es solche Steine in verschiedener Größe in übergroßer Menge!

06] Die Bewohner dieses großen Weltkörpers benutzen derlei Steine zur Beleuchtung ihrer inneren dunklen Gemächer; denn der eigentliche Sonnenkörper ist eigentlich auch nur dunkel. Das Licht der Sonne, das du siehst, entwickelt sich auf ihrer atmosphärischen Oberfläche und wirkt in seiner Vollkraft nur nach außen hin und nach dem eigentlichen festen Sonnenkörper kaum etwas stärker, als wie stark beleuchtet du die Oberfläche dieser Erde ersiehst.

07] Daher nimm du auch diesen Stein, und du wirst dir mit ihm durch zehn Jahre noch zur Nachtzeit deine Gemächer wohl erleuchten können; aber an zehn Jahren wird sich sein Licht mehr und mehr verlieren. Willst du ihn aber zum Beleuchtungsdienste länger gebrauchen, so setze ihn am Tage immer den Sonnenstrahlen aus; er wird sich mit ihnen sättigen und dir die Nacht hindurch statt einer noch so guten Lampe den Beleuchtungsdienst leisten. Aber nach hundert Jahren, so dieser Stein von der Säure der Erdluft zu sehr durchdrungen sein wird, dann wird er zum Beleuchtungsdienste auch völlig untauglich werden.«

08] Darauf nahm der Oberstadtrichter den Stein mit vieler Ehrfurcht und Danksagung an, wickelte ihn in ein reines Tuch und steckte ihn in seines Rockes Tasche.

09] Es sahen aber das natürlich auch Meine Jünger und beneideten heimlich die Römer, sagten bei sich: »Wir sind doch schon so lange bei Ihm, - aber für uns hat Er solche Wunder nie gewirkt. Sooft Er nur irgend unter die Römer kam, da wirkte Er stets Seine größten Wundertaten, und wir konnten sie erst unter den Heiden sehen, denen Er sie auch Selbst oder durch den Engel Raphael erklären konnte! Als Ihn aber einst in der Nähe von Jerusalem der uns allen bekannte fromme Nikodemus nach dem Aussehen des Reiches Gottes fragte, da gab Er ihm zur Antwort: "Bis du nicht im Geiste wiedergeboren wirst, kannst du die Dinge des Himmels nicht begreifen; denn du begreifst die Dinge dieser Erde nicht, die du doch siehst, wie wirst du himmlische Dinge begreifen, die du nicht siehst?" Warum sagte Er das nicht auch den Heiden, und warum gerade den Juden?«

10] Und so murrten die Jünger heimlich untereinander, und Ich erhob Mich da zu den Jüngern hin und sagte: »Was murret ihr da heimlich untereinander? Lasse Ich euch nicht Zeugen sein alles dessen, was Ich unter den Heiden tue, und habe Ich euch nicht erst vor ein paar Tagen den Grund gesagt, warum Ich den Heiden mehr zeigen und erklären kann denn euch?

11] Ihr seid, was die Wissenschaft in den Naturdingen anbetrifft, nicht im geringsten bewandert; die Römer aber haben darin eine Menge sehr tüchtiger Kenntnisse und können die Verhältnisse der Dinge in der Natur gar wohl unterscheiden. Das alles fehlt euch Juden, und das schon seit der Zeit der ersten Richter, die die Verhältnisse in der Natur auch kannten, und zwar aus den zwei Büchern Mosis, die ihr verworfen habt und habt euch dafür eine Kabbala geschaffen, deren Inhalt schlechter ist als der Inhalt eines jeder heidnischen Philosophen. Euch aber wehre Ich nicht, derlei höhere Erklärungen mit anzuhören und derlei Taten mit anzusehen. Wie lange werde Ich denn euch noch ertragen müssen, bis ihr verständiger werdet?«

12] Sagte Simon Juda: »O Herr und Meister, habe nur Geduld mit uns; wir sehen es schon wieder ein, daß wir vor Dir wieder einmal gesündigt haben!«

13] Sagte Ich: »Es ist schon wieder gut; aber in der Zukunft lasst derlei Gemurre unter euch!«

14] Dies schrieben sich die Jünger ins Herz und wurden darauf viel bescheidener und gelassener bei jeder Gelegenheit, und Ich kehrte von ihnen wieder zum Oberstadtrichter und Raphael zurück.



Home  |    Index Band 10  |   Werke Lorbers