Jakob Lorber: 'Himmelsgaben', Band 2


12] Ein alter Mann aber, der gehört hatte, wie der Wanderer vor dem Abmarsche ganz stolz den Berg angeredet hatte, sagte zu ihm: »Wenn du wieder einen Berg besteigen willst, so mußt du dich vorher recht klein, aber nicht recht groß machen; denn siehe, jede Höhe ist rein und geheiligt! Daher will sie auch in der Demut und nie im Hochmute erstiegen sein. - Wehe aber dem, der sie im Hochmute ersteigt; der wird einen mächtigen Fall tun und wird sich zerschellen, und sein Fleisch wird hängenbleiben an den schroffen Spitzen emporragender Felsen!

13] Wenn du aber ein rechter Wanderer sein willst, dann laß dich fürder nicht abschrecken von den Höhen und besteige sie sattsam, so wirst du erst recht innewerden, wie herrlich, groß und mächtig Der sein muß, dem es ein leichtes war, eine so große und herrliche Erde bloß durch Sein ,Werde' hervorzurufen! Es sind wohl die Täler, die du schon überhäufig bereist hast, auch demselben allmächtigen ,Werde' entsprossen, aber es ist dennoch ein großer Unterschied zwischen ihnen und den Bergen. Die Aussicht in dem Tale ist beschränkt und eingeengt, auf den Bergen aber frei und oft unübersehbar. Es gleicht das Tal einem ganz gewöhnlichen Menschen, der außer den natürlichen Bedürfnissen keine höheren kennt; die Berge aber sind daneben gleich einem Wessen, der über alle die weltlichen Bedürfnisse erhaben sein Herz und Haupt hoch emporhebt und seine Augen nur dorthin richtet, wo er die großen heiligen Denkmäler Dessen erschaut, den sein Herz so ehrfurchtsvoll und dabei aber doch auch ebenso heilig kindlich froh »Lieber, heiliger Vater!« nennt.

14] Siehe, du mein lieber Freund, also reise du, und also besteige du gerne die Berge, dann werden dir deine Reisen einen großen Gewinn für dein Leben bringen zeitlich und - verstehe - dadurch auch ewig! Denn wir alle sind Wanderer und wandern von der Wiege bis zum Grabe manchen beschwerlichen Weg. Da geht es manchmal steil, holpericht, manchmal wie auf dem Glatteise. Die meisten Lebenswanderer gleichen dir und bleiben lieber in den Tälern ihres Tierwesens, als daß sie sich einmal die Mühe nähmen, einen Berg zu besteigen, um da wenigstens die Aussicht zu einem wahren Menschen zu bekommen. - Also aber soll es nicht sein!

15] Wir sollen wohl in den Tälern der Demut wohnen; aber darin sollen wir nicht vergessen, daß die Berge der freien Gott- und Menschenerkenntnis zu besteigen sind - was von Gott Selbst vorgeschrieben ist!«



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