Jakob Lorber: 'Kindheit und Jugend Jesu'


101. Kapitel: Tullias Bekanntwerden mit Cyrenius durch Joseph. Eine wunderare Entdeckung: Tullia, die Base und Jugendliebe des Cyrenius. Des Cyrenius Rührung. (23.12.1843)

01] Darauf ging Joseph hin zum immer noch mit dem Kindlein beschäftigten Mädchen, zupfte es am Ärmel und sprach zu ihm:

02] »Höre, meine teure Tochter, hast du denn im Ernste noch nicht bemerkt, wer sich nun hier befindet? - Blicke doch einmal auf und siehe!«

03] Hier erwachte das Mädchen aus seiner Wonne und ersah den glänzenden Cyrenius.

04] Es erschrak förmlich und fragte ganz ängstlich: »O du mein lieber Vater Joseph, wer ist dieser gar so stark glänzende Mann? Was will er hier? Woher kam er denn?«

05] Und Joseph sprach zum Mädchen: »O fürchte dich nicht, meine Tochter Tullia! Siehe, das ist der überaus gute Cyrenius, ein Bruder des Kaisers und Statthalter von Asien und einem Teile Afrikas!

06] Dieser wird deine Sache in Rom sicher in die beste Ordnung bringen; denn du bist ihm schon beim ersten Anblicke sehr teuer geworden!

07] Gehe aber hin, und bitte ihr um Gehör, und trage ihm deine ganze Lebensgeschichte vor, und sei versichert, daß du nicht zu tauben Ohren wirst geredet haben!«

08] Das Mädchen aber sprach: »O du mein lieber Vater, das getraue ich mir nicht; denn ich weiß, so ein Herr prüft ganz entsetzlich strenge bei solchen Gelegenheiten, und hat er irgendeinen Punkt erfahren, der sich nicht erweisen läßt, da droht er einem gleich mit dem Tode!

09] Wie es mir in meiner Armut schon einmal ergangen ist, da mich auch ein solcher Herr zu examinieren hatte angefangen, woher ich wäre!

10] Und als ich ihm alles getreu kundgab, da forderte er dann gar strenge Beweise von mir!

11] Da ich ihm aber solche in meiner gänzlichen Verwaistheit und blanksten Armut nicht herzustellen vermochte, da gebot er mir das gestrengste Schweigen und drohte mir mit dem Tode, so ich noch mehr davon zu jemandem reden möchte.

12] Ich bitte dich darum, verrate auch du mich nicht, sonst bin ich sicher verloren!«

13] Hier trat Cyrenius, der diese leise Unterredung vernommen hatte, hin zur Tullia und sprach zu ihr:

14] »O Tullia, fürchte den nicht, der ja alles aufbieten will, um dich so glücklich als möglich zu machen!

15] Sage mir nichts als nur den Namen deines Vaters, so du ihn dir noch gemerkt hast, und mehr brauche ich nicht!

16] Doch fürchte ja nichts, wenn dir auch der Name deines Vaters entfallen wäre! Du bleibst mir gleich teuer, darum, daß du nun eine Tochter dieses meines größten Freundes bist!«

17] Hier bekam Tullia schon mehr Mut und sprach zu Cyrenius: »Wahrlich, wenn mich dein sanftes Auge täuscht, so ist die ganze Welt eine Lüge! Ich will dir daher ja wohl sagen, wie mein guter Vater hieß.

18] Siehe, sein Name war Victor Aurelius Dexter Latii; - so du ein Bruder des Kaisers bist, da muß dieser Name dir nicht fremd sein.«

19] Als Cyrenius diesen Namen vernommen hatte, da ward er sichtbar gerührt und sprach mit gebrochener Stimme:

20] »O Tullia, das war ja ein rechter Bruder meiner Mutter! Ja, ja von dem weiß ich, daß er mit einem rechtmäßigen Weibe eine blindgeborene Tochter hatte, die er über alles liebte!

21] O wie oft habe ich ihn beneidet um sein Glück, das eigentlich ein Unglück war! Aber ihm war die blinde Tullia mehr als die ganze Welt.

22] Ja ich selbst war in diese Tullia, da sie noch kaum vier bis fünf Jahre alt war, ganz verliebt und habe oft bei mir geschworen: ,Diese oder sonst keine soll mein rechtes Weib werden dereinst!'

23] Und - o Gott, nun finde ich dieselbe himmlische Tullia hier im Hause meines himmlischen, göttlichen Freundes!

24] O Gott, o Gott, das ist zuviel Lohnes auf einmal für einen schwachen Sterblichen um das Wenige, das ich, ein Nichts vor Dir, o Herr, tat!« - Hier sank der schwachgewordene Cyrenius auf einen Stuhl und faßte sich nach einer Weile erst wieder zur ferneren Rede mit der Tullia.



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