Jakob Lorber: 'Kindheit und Jugend Jesu'


204. Kapitel: Der Tullia Klage. Marias tröstende Worte. Der Tullia Selbstschau, Reue und Buße. Jesu Lieblingsspeise. Die alte und die neue Tullia. (11.05.1844)

01] Nach einer Weile erst erholte sich Tullia wieder und fing an, gar bitterlich zu weinen und sagte:

02] »O Herr, warum ward ich sehend einst in diesem Hause, warum das Weib des Cyrenius, daß ich nun in meinem vermeintlichen Glücke so viel zu leiden habe?

03] Warum erwecktest Du die Tote? Warum mußte denn wieder Leben in meine Brust kehren?

04] Bin ich denn zur Qual geboren worden, warum gerade ich, während doch Tausende und Tausende ruhig und glücklich leben und wissen kaum von eine Träne, die der Schmerz dem Auge entpreßt?«

05] Maria aber, von Mitleid gerührt, vertröstete die Tullia mit folgenden Worten:

06] »Tullia, du mußt nicht hadern mit dem Herrn, deinem und meinem Gotte!

07] Denn siehe, es ist schon so Seine Art und Weise, daß Er gerade diejenigen, die Er liebt, recht starken Prüfungen aussetzt!

08] Solches erkenne du in deinem Herzen, und erwecke deine Liebe von neuem zu Ihm, und Er wird alsbald vergessen Seiner Drohung und wird dich aufnehmen von neuem in Seine Gnade!

09] Denn Er hat schon gar oft gedroht den Übeltätern und hat ihnen den Untergang auf den nächsten Tag durch die Propheten verkünden lassen und bezeichnen die Stelle, auf der die Hunde ihr Blut auflecken sollen.

10] So aber die Übeltäter zur Buße griffen, da sprach Er alsbald zum Propheten: ,Siehst du nicht, daß er Buße tut? Darum will Ich ihn auch nicht strafen!'

11] Als Jonas berufen ward von Gott, den Niniveern, die in alle Sünden versunken waren, den Untergang zu verkünden,

12] da wollte dieser nicht hingehen, denn er sprach: ,Herr, ich weiß, daß Du nur höchst selten das folgen lässest, was der Prophet androhen muß;

13] ,darum will ich nicht hinziehen, auf daß ich als ein Prophet vor den Niniveern nicht zuschanden werde, wenn Du Dich ihrer sicher wieder erbarmen wirst!«

14] Siehe, sogar dieser Prophet setzte einen gegründeten Zweifel in den Zorn Gottes!

15] Ich aber rate dir: Tue das, was die Niniveer taten, und du wirst wieder zu Gnaden aufgenommen werden!«

16] Diese Worte flößten der Tullia wieder Mut ein, und sie fing an, über sich nachzudenken, und fand bald eine Menge Fehler in sich und sprach:

17] »O Maria, jetzt erst ersehe ich und es wird mir klar, warum mich der Herr also züchtigt!

18] Siehe, mein Herz ist voll Sünden und voll Unlauterkeit! O wie werde ich es je wieder zu reinigen vermögen?!

19] Wie kann ich es also wagen, mit einem so höchst unreinen Herzen den Heiligen aller Heiligkeit zu lieben?!«

20] Und Maria sprach: »Eben darum mußt du Ihn lieben in deiner reuigen Schulderkenntnis; denn solche Liebe allein nur wird dein Herz reinigen vor Ihm, dem Heiligen aller Heiligkeit!«

21] Als spät am Abende das Kindlein mit Seinem Jakob wieder ins Haus kam, da ging Es alsbald zu Maria und verlangte etwas zu essen, und Maria gab Ihm sogleich etwas Butter, Brot und Honig.

22] Darauf sagte Es: »Ich sehe noch eine andere Speise, gib Mir auch davon zu essen! Siehe, es ist das Herz der Tullia; gib es Mir, weil du es schon für Mich zubereitet hast!« - Hier fiel die Tullia vor dem Herrn nieder und weinte.

23] Maria aber sprach: »O Herr, erbarme Dich der Armen, die da viel leidet!«

24] Und das Kindlein sprach: »Ich habe Mich ihrer schon gar lange erbarmt, sonst hätte Ich sie nimmer erweckt!

25] Nur sie war es, die von Meiner Erbarmung keine Notiz nehmen wollte und wollte lieber hadern mit Mir in ihrem Herzen, als Mich aufnehmen in selbem.

26] Da sie aber nun ihr Herz zu Mir gewendet hat, so habe Ich ihr getan wie den Niniveern.«

27] Nach diesen Worten ging das Kindlein hin zu Tullia und sprach zu ihr:

28] »Tullia, siehe, Ich bin nun recht müde geworden; du hast Mich einst auf deinen Armen getragen, und es tat Mir wohl, - denn du hast recht weiche Arme.

29] Also erhebe dich auch jetzt und nimm Mich auf deine Arme, und fühle, wie süß es ist, den Herrn des Lebens in den Armen zu haben!«

30] Dies Begehren des Kindleins brach der Tullia völlig das Herz.

31] Mit der ihrem Herzen möglichst höchsten Liebe nahm sie das Kindlein auf ihre weichen Arme und sprach weinend:

32] »O Herr, wie ist das wohl möglich, daß Du mir nun gegen Deine schreckliche Drohung so gnädig bist?!«

33] Und das Kindlein sprach: »Weil du die alte Tullia, die Mir zuwider war, ausgezogen und eine neue, Mir werte, angezogen hast! Doch jetzt sei ruhig; denn nun habe Ich dich schon wieder lieb!« - Durch diese Szene wurden alle zu Tränen gerührt.



voriges Kapitel Home  |    Inhaltsverzeichnis  |   Werke Lorbers nächstes Kapitel