Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 7


Kapitelinhalt 46. Kapitel: Nikodemus bei Lazarus auf dem Ölberg.

01] Hierauf ging Nikodemus aus dem Rate und suchte des Volkes wegen, das schon sehr ungestüm geworden war, auf einem geheimen Wege zu seinem Hause zu gelangen. Als er aber daselbst in die Nähe seines Hauses gekommen war, so fand er um dasselbe auch viel Volkes versammelt, das von ihm in solch einer Bedrängnis einen Rat haben wollte.

02] Da dachte er bei sich: "Gehe ich nun nach Hause, so wird mich das Volk bestürmen, und ich könnte ihm doch beim besten Willen über diese Erscheinung keine nur im geringsten befriedigende Auskunft geben. Ich weiß aber, was ich tun werde: Ich werde mich auf den ziemlich hohen Ölberg zu Lazarus begeben und mich mit ihm über diese Erscheinung besprechen. Er war stets so ein Mann noch nach dem Herzen Gottes, wenn er auch mit dem Tempel in manchem Hader stand, und er wird sicher nun mehr wissen denn ich und der ganze Tempel!" Gedacht und getan!

03] Und als er an das offenstehende große Gartentor kam, fragte ihn eine aufgestellte Wache, was er da suche.

04] Und Nikodemus sagte: »Ich habe Wichtiges mit dem Lazarus zu besprechen, und so laß du mich nur frei gehen!«

05] Und die Wache fragte ihn nach dem Namen, den sie auch sogleich erfuhr, worauf sie dann den Nikodemus auf den Berg gehen ließ; denn er hatte vor jedermann einen guten und gerechten Ruf. Nur fragte ihn der Wachmann, ob er ihm nicht sagen könne, was die noch nie dagewesene wunderliche Erscheinung etwa doch bedeute.

06] Und Nikodemus sagte freundlich zum Wachmann: »Ja, du mein Freund, derentwegen will und muß ich eben zum Lazarus auf den Berg gehen, weil ich weiß, daß er um diese Zeit, des Festes und des Marktes wegen, stets auf diesem Berge in seiner großen Herberge zu wohnen pflegt! Er ist in diesen Dingen sehr kundig und wird mir darüber sicher den möglichst besten Aufschluß geben können. Doch so viel kann ich als ein Ältester Jerusalems dir schon für ganz gewiß sagen, daß diese außerordentliche Erscheinung für die Guten etwas Gutes und für die Bösen etwas Böses anzeigt; denn das ist kein gewöhnliches Spiel der Natur mehr. Darum sei du, wenn da gut bist, samt mir ganz unbesorgt; denn uns beiden wird nichts Arges begegnen!«

07] Dafür bedankte sich der auch schon sehr ängstlich gewordene Wachmann, und unser Nikodemus ging eilends auf den Berg und staunte, oben ankommend, nicht wenig, eine so große und ganz heiter gestimmte Menschenmenge anzutreffen, die hier die sich gar großartig ausnehmende Erscheinung anstaunten und ihre Herrlichkeit mit froher Miene betrachteten.

08] Ich aber sagte zu Lazarus: »Du, Bruder Lazarus, der Älteste Nikodemus, von starker Furcht getrieben, ist heraufgekommen, um mit dir darüber zu reden, was etwa doch diese Erscheinung zu bedeuten habe! Gehe denn hin, empfange ihn, und Ich werde es dir schon in den Mund legen, was du vorderhand zu ihm zu sagen haben sollst! Und so wolle denn hingehen, doch sage ihm nicht zu bald, daß Ich hier bin!«

09] Lazarus war darob recht von Herzen froh; denn er liebte den Nikodemus als seinen einzigen Freund gar sehr. Und so ging er denn auch schnell hin und tat, was Ich ihm angeraten hatte.

10] Als unser Nikodemus bei der ungewöhnlichsten Tageshelle in der Nacht schon auf mehrere Schritte des Lazarus ansichtig ward, grüßte er ihn schon von weitem und sagte: »Bruder, vergib es mir, daß ich dich so spät in der Nacht besuche! Aber du darfst ja nur dort im Osten die zwölf Feuersäulen ansehen, und du wirst es sehr leicht erraten, was mich so ganz eigentlich zu dir heraufgeführt hat. Ich sage es dir: In der ganzen großen Stadt wie im Tempel ist es aber ganz rein aus! Es ist dir das ein Etwas, das unseres Wissens eigentlich denn doch noch nie dagewesen ist! In der Stadt laufen die Juden und die Heiden wie verrückt durcheinander. Die muntere Jugend macht Scherze und schiebt diese ganze Erscheinung den Essäern in die Schuhe; aber da schreit wieder ein alter, des Geldes barer Rabbi durch alle Gassen und Straßen: "Der Messias kommt an!", was aber doch die Menschen auch zu keiner Ruhe kommen läßt. Die Heiden glauben an einen Götterkrieg, und engherzige Juden sehen entweder die Ankunft des verheißenen Messias oder andere haben Daniels Jüngstes Gericht vor Augen. Die Priester sind ratlos und wissen dem Volke auf seine Fragen keine haltbare und nur halbwegs wahre Silbe zu sagen. Das Volk wird im Tempel unwillig und verhöhnt das Priestertum auf eine ganz unerhörte Weise. Und so ist das in der großen Stadt nun ein solches Durcheinander, wie ich noch nie eines erlebt habe!

11] Ich bin selbst im Hohen Rate nahe eine Stunde lang gesessen und ward befragt von allen priesterlichen Seiten; aber wer kann bei solchen unerhörten Erscheinungen jemandem einen weisen Rat erteilen?! Ich habe ihnen allen einen so ziemlich reinen Wein eingeschenkt; aber es hat das alles rein gar nichts gefruchtet.

12] Ja, was soll man denn da wohl noch Weiteres beginnen? Die Tiere leben nach ihrem harmlosesten Instinkte, doch die Priester im Tempel - ich sage es dir - haben weder Instinkt und noch viel weniger eine Vernunft oder irgend einen Verstand! Und so ist mit diesen wahren Halbmenschen, oder eigentlich schon gar keinen Menschen mehr, gar nichts anzufangen und gar nichts zu machen. Und siehe, so bin ich denn bei dieser außerordentlichen Gelegenheit zu dir herauf geflohen; denn unten in der Stadt wie im Tempel ist für unsereinen gar nicht mehr zu bestehen!

13] Aber wenn du nun gerade Muße hättest, so könntest du mir wohl von deinen Lebensgeschichten etwas ganz Besonderes kundtun, was bei mir um so wünschenswerter wäre, da ich nun selbst in meinem Gemüte sehr bedrängt bin. Sage mir ganz offen: Hast du bei deinen Reisen in Persien und Arabien je eine ähnliche Erscheinung gesehen? Und so du je etwas Ähnliches gesehen hast, - von was für Folgen war sie hinterdrein oder auch schon gleichzeitig begleitet?«

14] Sagte Lazarus: »Laß dir wegen dieser wahrlich allergroßartigst herrlichen Lichterscheinung kein schweres Herz machen; denn sie trägt durchaus kein Anzeichen von irgend bösen Folgen für uns wenigstens insoweit bessere Menschen, da wir noch den alten und festen Glauben an Gott und unsere Treue zu Ihm in unserem Gemüte bewahrt und nach Möglichkeit Seine Gesetze beachtet haben! Für die Abtrünnigen aber ist sie eine gute Mahnung und sagt ihnen, daß der ewig-alte Jehova noch gleichfort lebt und die Macht hat, die Sünder zu züchtigen, wie und wann Er will. Wenn du diese Erscheinung von dem Standpunkte aus besiehst, so kann es dir nicht bange werden. Sieh dort die etlichen Hunderte von Menschen! Sie betrachten diese Erscheinung allesamt von diesem Standpunkte aus und sind voll Ruhe und voll guten Mutes, und du mit deiner alterprobten Rechtlichkeit vor Gott und den Menschen wirst doch wohl auch keinen Grund haben, dich vor dieser Erscheinung zu fürchten! - Habe ich recht oder nicht?«

15] Sagte Nikodemus: »Jawohl, jawohl, du hast recht und gut geantwortet und mein Herz mit deinen freundlichen Worten sehr erquickt, wofür ich dir von ganzem Herzen dankbar bin; doch hast du mir nun davon noch nichts erwähnt, ob du bei deinen weiten Reisen in Persien und Arabien noch nie etwas Ähnliches gesehen hast!«

16] Sagte Lazarus: »Noch nie, weder in Persien noch in Arabien, habe ich derartige Erscheinungen gesehen! Andere oft auch sehr sonderbare Erscheinungen in großer Menge bei Tag und bei Nacht habe ich wohl gesehen, die den Menschen, der sie ein erstes Mal sieht, sicher auch sehr stutzen machen; aber weil sie sich zu gewissen Zeiten immer gleichartig wiederholen, so machen sie auf die Einheimischen keinen besonderen Eindruck. Aber diese Erscheinung würde sicher die mutigsten Araber ins Bockshorn treiben; denn da hat auf dieser Erde Boden noch nie ein Mensch etwas Ähnliches gesehen, außer in einer prophetischen Verzückung irgendein Prophet, wie man sich solches noch erzählt von dem alten Vater Kenan und Henoch, und noch von Moses, auch von Elias und von Daniel. Aber mit den fleischlichen Augen dürfte solch eine Erscheinung noch nie gesehen worden sein. Es wird diese Erscheinung jedoch nicht gleichfort also stehenbleiben, sondern sich so nach meinem Gefühle bald und zwar noch mehrere Male verändern.«

17] Sagte Nikodemus: »Meinst du das im Ernste?«

18] Sagte Lazarus: »Allerdings, so wie die zwölf Lichtsäulen nun stehen und sich auch stets um etwas vergrößern, werden sie nicht bis zum Ende verbleiben!«

19] Sagte Nikodemus: »Oh, da wird es noch schlimmer werden in der Stadt und in der ganzen Umgegend! Was werden deine beiden Schwestern daheim machen? Die werden ja vor Angst verschmachten, so wie auch meine Familie in meinem Hause!«

20] Sagte Lazarus: »Oh, sorge du dich um etwas anderes! Dafür ist schon vom Herrn aus gesorgt; denn Er läßt die Seinen nicht verschmachten, und mögen Dinge über die Erde kommen, welche nur immer wollen. Denn der Herr wacht auch über derlei Erscheinungen, läßt sie werden, sich verändern und vergehen, und das stets zum Besten und zum Heile der Menschen dieser Erde. Und also magst du auch wegen deiner Familie ganz unbesorgt sein; denn der Wille Gottes wacht über uns alle!«



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